Deutsch-Polnische Geschichte

und Gegenwart in der Perspektive der europäischen Vereinigung

Breslaw, Rübezahl und Co. - Neues Europa?

Im Seminar Breslaw, Rübezahl und Co. begaben sich die 18 Teilnehmenden auf die Spuren der deutschen Geschichte in der Region Schlesiens. An dieser Bildungsfahrt vom 28.10.-1.11.2015 nahmen Studierende der Hochschule Mittweida sowie externe Interessierte teil. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Brücke/Most-Stiftung (Projekt geschichte konkret ErFahren) und dem Herbert-Wehner-Bildungswerk. Die Seminarleitung hatten Prof. Dr. Matthias Pfüller und Susanne Gärtner Das Seminar fand in Jagniątków statt. Von dort aus unternahmen die Teilnehmenden Ausflüge in die nähere Umgebung und nach Wroclaw (Breslau)

Mittwoch, 28.10.2015 -Start der Reise in Dresden | Besuch des Schlesischen Museums in Görlitz-

Startpunkt der Veranstaltung war das Herbert-Wehner-Bildungswerk in der Dresdner Neustadt. Hier begrüßte die Seminarleitung die Teilnehmenden, stellten das Seminarprogramm vor und eroierten die Erwartungshaltungen in der Gruppe. Anschließend wurde ein gemeinsamer Treffpunkt in Görlitz vereinbart, zu dem die Teilnehmenden individuell in Mitfahrgelegenheiten anreisten.
Dort besuchten sie das Schlesische Museum, in dem Prof. Dr. Pfüller eine Einführung in die Thematik Schlesiens unter dem Nationalsozialismus gab. Hierbei ging er auf die Geschichte des Gebietes seit dem 16. Jahrhundert, die wirtschaftliche Bedeutung Oberschlesiens und die Anfänge und das Ende des Nationalsozialismus ein. Besonders skizzierte er die schwierige Situation der Bevölkerung Breslaus am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Anschließend konnten die Teilnehmenden sich die Ausstellung im Museum ansehen, die sich ebenfalls mit diesem Themen befasste. Danach setzten die Teilnehmenden ihre Reise nach Jagniątków fort, wo sie ihre Zimmer beziehen konnten.
Nach einer kurzen Pause versammelte sich die Gruppe hier erneut. Susanne Gärtner führte die Teilnehmenden mit Bezug auf eigene biographische Bezüge in die Themen Heimat und Fremde ein. Hierbei zeichneten die Seminarteilnehmer durch eine soziometrische Aufstellungsübung ihre eigene Herkunft sowie die Herkunft ihrer Eltern- und Großelterngeneration nach. Anschließend wurden der Gruppe einige Fragen gestellt, über die sich die Teilnehmenden zuerst im Stillen Gedanken machten und diese später in Kleingruppengesprächen auswerteten. Die Fragen zielten auf die Situation des Fremdseins ab und auf Möglichkeiten des Umgangs mit diesem Zustand. Danach wurden die Diskussionen in der großen Gruppe evaluiert. Der Abend wurde mit Beispielen der schlesischen Nachkriegsliteratur von der Journalistin und Schriftstellerin Simone Labs abgerundet.

Donnerstag, 29.10.2015 -Geschichte des Riesengebirges-

Der zweite Tag begann mit einem Impulsreferat zum Thema Heimat von Prof. Dr. Matthias Pfüller. Zur Einführung zeigte dieser den Film eines studentischen Projektes der Hochschule Mittweida. In diesem Film wurden unterschiedliche Menschen zu den Fragen Was bedeutet Heimat für Dich? und Was erinnert Dich an deine Heimat? interviewt.
Prof. Dr. Pfüller fokussierte in seinem multimedialen Vortrag die historische Entwicklung des Konstrukts Heimat seit dem 19. Jahrhundert. Es erfolgte ein Exkurs zur Geschichte des Riesengebirges. Insbesondere diese Region wurde in Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts überhöht dargestellt. Kennzeichnend für die Inszenierung des Heimatbegriffes waren z.B. heroische Landschaftsabbildungen. Zudem wurde der Heimatbegriff mit deutschem Besitz, Wohlstand und Wohnsitz in Verbindung gebracht. In der Episode der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erfolgte eine Instrumentalisierung des Heimatbegriffes. Heimat galt als wichtiger Bestandteil einer gemeinsamen Nation, welche laut dem nationalistischen Gedan-kengut verteidigt werden musste. In seinen Ausführungen nahm Prof. Dr. Pfüller anschließend Bezug auf das Heimatempfinden der aus Schlesien Vertriebenen und den Widerspruch zur staatlich diktierten Erinnerungskultur in der DDR. Heute werde der Begriff Heimat hingegen kommerzialisiert. Nach dieser Einführung begann die Spurensuche im Riesengebirge. Hierfür statteten sich die Teilnehmenden mit Kameras aus, da die Aufgabe bestand, Heimatgefühle in Landschaftsaufnahmen festzuhalten. Ziel der Wanderung war die Samotnia-Hütte. Die kleine Teichbaude liegt in 1195 m Höhe und befindet sich in einem Felsenkessel. Der polnische Fotograf Dariusz Goetze hielt hier einen Vortrag über die Entwicklung der Riesengebirgsfotografie von 1835 bis hin zur Gegenwart. Anschließend erfolgte für einige Teilnehmenden der Abstieg zurück ins Tal. Ein kleiner Teil der Gruppe lief eigenständig den Hauptwanderweg entlang des Felsenkessels weiter. Abends erfolgte die Vorstellung der individuellen Fotografien.

Freitag, 30.10.2015 -Geschichte und Geschichten in Breslau der Kulturhauptstadt 2016-

Zu Beginn des Tages gab Prof. Dr. Matthias Pfüller eine Einführung in die Vertreibungs- und Fluchtgeschichte von Niederschlesien am Ende des Zweiten Weltkrieges. Hierbei gab er einen Überblick über die Situation der Bevölkerung in der sogenannten Festung Breslau, die Richtungen der Fluchtbewegungen und die gesellschaftliche Situation der Vertriebenen ab 1950. Dabei machte Prof. Dr. Pfüller Parallelen zu den Diskursen damals und heute deutlich. Anschließend fuhr die Gruppe in einem Kleinbus nach Breslau. Die Gruppe wurde während der Fahrt von Simone Labs literarisch eingestimmt.
In Breslau wurde die Gruppe von der Germanistin Renata Bardzik-Milosz begrüßt. Sie zeigte den Teilnehmenden auf sehr anschauliche Weise ihre Stadt. Gemeinsam konnte die Gruppe etwas über die Geschichte des jüdischen Viertels in Breslau erfahren. Renata Bardzik-Milosz ging auf den bald stattfindenden Gedenkmarsch an die sich bald jährende Reichsprogromnacht ein. Zudem konnten die Teilnehmenden die Synagoge besuchen, die u.a. einen Konzertsaal beinhaltet und an verschiedene bekannte Jüdinnen und Juden der Stadt erinnert. Beispiele für diese sind Edith Stein und Norbert Elias. Anschließend zeigte Frau Bardzik-Milosz den Teilnehmenden das Denkmal für das Stadtviertel der gegenseitigen Achtung. Zudem ging sie auf die derzeitigen Vorbereitungen Breslaus auf den Status als Europäische Kulturhauptstadt 2016 ein, erklärte ihnen, warum die Stadt auch als Venedig Polens bezeichnet wird und begab sich mit den Teilnehmenden auf deutsche Spuren. Es wurde während der Führung deutlich, wie unverkrampft die Stadt sowohl an die polnische, als auch an die deutsche Geschichte erinnert. Weitere Highlights der Stadtführung waren das Bonhoeffer-Denkmal, das alte Rathaus, der große Hauptplatz der Stadt und die Universität. Kleine bronzene Zwerge von individueller Gestaltung überraschten die Teilnehmenden an verschiedenen Orten der Stadt. Nach der Mittagspause in der Unimensa und der Besichtigung des Doms endete die Stadtführung beim Denkmal des Kardinals Bolesław Kaminek. Dieses gedachte des Hirtenbriefes der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder, welche bereits zu einer Zeit, als die Versöhnung zwischen Polen und Deutschen in der Bevölkerung noch sehr schwierig war, an dieser arbeiteten. Wir vergeben und bitten um Vergebung stand unter einer Statue des Kardinals Bolesław Kaminek.
Nach dieser interessanten und anschaulichen Stadtführung hatten die Teilnehmenden noch etwas Zeit, die Stadt auf eigene Faust zu besichtigen, bevor der Bus am Abend wieder nach Jagniątków fuhr.

Samstag, 31.10.2015 -Spurensuche in der Kleinstadt Lubomierz/Liebenthal-

Dieser Tag begann mit einem Zwischenauswertung des bisherigen Seminars. Alle Teilnehmenden versammelten sich und brachten ihre subjektiven Wahrnehmungen ein. Zum einen lag ein Hauptaugenmerk auf der kritischen Reflexion der Organisation und zum anderen auf den Inhalten und Methoden des Seminars. Auf Wunsch erläuterte Prof. Dr. Pfüller die Situation der polnischen Flüchtlinge am Ende des Zweiten Weltkrieges, die auf ehemals deutschen Gebiet angesiedelt worden sind. Dabei zog er wieder einen Vergleich der damaligen Situation mit Heute.
Danach erfolgte die Abfahrt in die rund 30 km entfernten Kleinstadt Lubomierz/Liebenthal. Ziel der Exkursion war eine Auseinandersetzung mit dem Umgang mit deutschen Hinterlassenschaften in dieser schlesischen Stadt. Der Lehrer und Vorsitzende des Vereins Klasztor-Lubomierz/Kloster Liebenthal Aron Bogusz führte die Gruppe durch die Pfarrkirche St. Mar-ternus (Kościół Wniebowzięcia NMP i św. Maternusa). Das schlesische Barockbauwerk wurde 1278 gegründet und gehört zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Im hinteren Teil der Pfarrkirche schließt sich ein Kloster an, welches zu Beginn der Gründung von Benediktinerinnen geleitet wurde. Nach einem Besuch im Klostermuseum, stärkte sich die Seminargruppe im Speiseraum des Benediktinerinnenklosters. Anschließend berichtete der Ortschronist und Zeitzeuge Wolfang Knoblich über seine Gemeindetätigkeit in Lubomierz. Als Mitglied des Vereins Kloster Liebenthal erzählte er über die Anfänge, das Kloster angemessen für die Beschaffung von Arbeitsplätzen zu verwenden und die aktuellen Herausforderungen. Im Anschluss daran fuhr die Gruppe zurück nach Jagniątków. Am Nachmittag erfolgte eine politisch-geschichtliche Spurensuche durch den Ort Jagniątków. Die thematische Einführung und Anleitung gaben Susanne Gärtner und Simone Labs. Die Teilnehmenden wurden in fünf Kleingruppen eingeteilt. Diese suchten verschiedene historische Bauwerke und Orte auf, wie zum Beispiel die Villa von Gerhardt Hauptmann. Anschließend trafen sich alle Kleingruppen an der Statue von Rübezahl wieder. Dort warteten Susanne Gärtner und Simone Labs mit einer kleinen Überraschung auf die Teilnehmenden. Am Abend erfolgte die gemeinsame Auswertung der Ereignisse und Erfahrungen während der Spurensuche in Jagniątków. Durch eine Lesung von Simone Labs, die von der literarischen Figur Rübezahls handelte, wurde der Abend abgerundet.

Sonntag, 1.11.2015 -Reiseauswertung im Künstlerdorf Wolimierz-

Nachdem die Gruppe die üblichen organisatorischen Angelegenheiten vor der Rückfahrt erledigt hatte, gab Prof. Dr. Matthias wieder einen thematischen Input.
In diesem sprach er über das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland vor-, während und nach des Zweiten Weltkrieges und zu seinen Einschätzungen über ein mögliches Entstehen einer Europäischen Identität. In seinem Referat beschrieb Prof. Dr. Pfüller das Verhältnis beider Länder als asymmetrisch. Diese Ungleichheit sei einerseits auf die wirtschaftliche Stärke Deutschlands, andererseits auf politische Faktoren zurückzuführen. So sei aufgrund der ständigen Teilung des polnischen Gebietes im 18. Jahrhundert ein besonderes nationalstaatliches Identitätsbewusstsein entwickelt worden. Der unterschiedliche Umgang Deutschlands und Polens mit nationaler Identität würde häufig zu Missverständnissen führen. Zudem habe der Versailler Vertrag dazu geführt, dass sich in den deutschen Diskursen das Täter-Opfer-Narrativ umgedreht habe. Auf diese Weise seien Ressentiments gegen Polen entstanden, die teilweise bis heute anhalten. Die u.a. daraus resultierende späte Arbeitnehmerfreizügigkeitserlaubnis für Polen, die erst 2011 erteilt wurde, ist laut Prof. Dr. Pfüller, eine Chance für den deutschen Arbeitsmarkt gewesen, die unbemerkt vertan wurde. Noch immer gibt es ein tiefes Misstrauen gegenüber Polen, die sich auch auf den Umgang mit der aktuellen Flüchtlingsfrage auswirkt.
Prof. Dr. Matthias Pfüller sprach sich für eine neue Gestaltung der deutschen Identität aus, die sich historisch auf das humanistische Erbe aus der Zeit der Aufklärung stützen sollte. Anschließend fuhren die Teilnehmenden in das Künstlerdorf Wolimierz. Eine Sozialarbeiterin zeigte der Gruppe das von vielen Künstlern bewohnte Dörfchen, wobei die Teilnehmenden sogar einen Blick in die privaten Wohnräume einiger Bewohner werfen durften. Diese hatten die alte Ruine wieder aufgebaut und mit originalgetreuen Möbeln nach eigenen Vorlieben gestaltet. Anschließend besuchte die Gruppe den Kulturbahnhof (StacjaWolimierz) im Ort. In dieser ehemaligen Ruine haben sich Musiker, Schauspieler, Tänzer und Kunsthandwerker niedergelassen und den Ort zu einem soziokulturellen Zentrum gestaltet. Wolimierz ist heute einer von mehreren Orten im Isergebirge, die sich durch ein hohes Maß an Internationalität auszeichnen. Die Ansässigen zeichnen sich in ihrer Arbeit durch ein hohes Maß an Kreativität aus, die polnische, tschechische und deutsche Geschichte spielt sowohl in Kunstprojekten als auch im Tourismus oder in der Bildungsarbeit eine große Rolle. Nach der Besichtigung setzte sich die Gruppe ein letztes Mal zusammen und sprach über die Eindrücke der letzten Tage. Anschließend fuhren die Teilnehmenden voller neuer Eindrücke nach Hause.

Autorinnen

Franziska Niese (Friedrisch Schiller Universität Jena)
Lilli Gaus (Hochschule Mittweida)