Antrittsvorlesung Prof. Dr. jur. Frank Czerner

Der juristische Auslegungskanon als ein hermeneutischer Schlüssel für die Soziale Arbeit

Antrittsvorlesung von Prof. Dr. iur. Frank Czerner, Professur Recht in der Sozialen Arbeit, 29. Oktober 2014, 16:15 Uhr, Zentrum für Medien und Soziale Arbeit, Bahnhofstr. 15, Hörsaal 39-041

Für meine Antrittsvorlesung habe ich mir ein Thema ausgewählt, das an der Schnittstelle zwischen juristischer Methodik und der Praxis Sozialer Arbeit zu lokalisieren ist. Die für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter wie für Juristen gleichermaßen bedeutsame und alltäglich relevante Frage, wie und auf welche Weise Gesetzestexte auszulegen, also zu interpretieren sind, habe ich nach einer musikalischen Hinführung zum Vorlesungsthema (Ave Maria von Karl May, gesungen von Stephanie Klotz, einer Studentin aus dem 2. Semester an unserer Fakultät) anhand einzelner ausgewählter Beispiele zur Auslegungsmethodik behandelt, welche zugleich flächendeckend die Kerngebiete meiner Professur aufzeigen:

  • Wörtliche und systematische „Passung“ kinder- und jugendhilferechtlicher Leistungsangebote bzw. familienrechtlicher Eingriffsbefugnisse gem. § 1666 BGB bei Alkohol-/Drogenkonsum Schwangerer
  • Opferentschädigungsansprüche infolge einer rechtswidrigen Operation nach teleologischer Extension der Tatbestandsvoraussetzungen des OEG als sozialrechtlich und „viktimodogmatisch“ erstrebenswertes Auslegungsziel
  • historische Auslegung als eine generationenübergreifende normative Determinierung, welche durch die wörtliche, systematische und teleologische Interpretation letztlich dominiert werden kann bzw. soll, um das Recht nicht zu einer „Herrschaft der Toten über die Lebenden“ (Thomas Jefferson 1789 in einem Brief an James Madison) werden zu lassen
  • alle drei Auslegungsmethoden am Beispiel des sog. Warnschussarrests gem. § 16a JGG für Jugendliche, die zu einer Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt werden und die hieraus resultierenden zusätzlichen Spannungen für die Arbeit der Jugendhilfe im Übergangsmanagement
  • das Problem „mehrerer Wahrheiten“ bei der historischen Auslegung am Beispiel der sog. Reichweitenbegrenzung (§ 1901a III BGB, BGH-ZR XII vom 17.03.2003), welche die Frage nach der Zuerkennung von Autonomie durch den Staat an seine Bürger berührt und in Frage stellt

Anhand dieser nur exemplarischen Darstellung habe ich versucht, die zentrale Bedeutung der Orientierung am Wortlaut der Norm („Im Anfang war das Wort“, Prolog Joh., 1,1), dem Logos, herauszuarbeiten: Jegliche juristische Interpretation hat am Wortlaut einer Norm anzusetzen und dann bei Bedarf die weiteren Auslegungsformen mit einzubeziehen. Nur so lässt sich die demokratische Konsentierung, welche das Gesetz bei der Beschlussfassung durch das Parlament erhalten hat, hinreichend wahren.
Bemerkenswert ist, dass das Rechtssystem, abgesehen von einzelnen speziellen Auslegungsvorgaben (§§ 133, 157, 1923 II BGB, Art. 51 GR-Charta), keinerlei allgemeingültige Auslegungsregeln für die Interpretation von Gesetzestexten beinhaltet. Demgegenüber weist can. 17 cic (corpus iuris canonici), das römisch-katholische Kirchenrecht, jene vier Auslegungsmethoden auf, welche auch unserer tradierten Auslegungstechnik nach Friedrich Carl von Savigny, wie er sie im Jahr 1840 im „System des heutigen römischen Rechts“ nach seinen Marburger Vorlesungen ausformuliert hat, zugrunde liegen.
Ein darüber hinaus gehendes hermeneutisches Verstehen beinhaltet dabei letztlich mehr als ein rein additives „Abarbeiten“ des Auslegungskanons, nach dem Grundsatz, dass das Ganze mehr darstellt als nur die Summe der Einzelkomponenten. Erst in einer umfassenden und gewichtenden Zusammenschau, in dem zueinander in Beziehung-Setzen einzelner Auslegungsergebnisse, vermag sich so etwas wie ein „hermeneutischer Schlüssel“ zur Sozialen Arbeit heraus zu kristallisieren. Dass die Hermeneutik bisweilen der isolierten Betrachtung von Einzelresultaten des juristischen Auslegungskanons untergeordnet wird, habe ich anhand einer, wenn auch ironischen, in der Substanz jedoch m.E. zutreffenden Aussage des Philosophen Odo Marquardt zu zeigen versucht, nach welcher einem Gesetz jeglicher Sinngehalt „untergeschoben“ werden kann. Hierdurch kann juristische Methodik zu einer Farce werden, zu einer Chiffre vermeintlich gründlichen Argumentierens, zu einem Alibi gesetzeskonformen Handelns, was in der Praxis Sozialer Arbeit zu verheerenden Folgen, z.B. auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendschutzes, führen kann.
Mein Hauptanliegen in meinem Dienst im Rahmen der Professur Recht in der Sozialen Arbeit besteht für mich darin, die Studierenden zu einem verstehenden und kritisch-distanzierten Umgang mit dem Gesetz, das die Soziale Arbeit formt und prägt, zu verhelfen, nicht zu einem blinden Buchstabengehorsam, welcher nur die Norm, nicht aber den Menschen, um den es stets geht, in den Blick nimmt. Als Leitmotiv mögen hierbei die Worte Benedikts XVI. in seiner Ansprache vor dem Deutschen Bundestag am 22.09.2011 gelten, nach welchen jenseits des demokratischen Geltungsanspruchs eines Gesetzes auch immer die Frage nach dem, was richtig ist, bei der Rechtsbildung, d.h. auch bei der Auslegung von Normen, eine Rolle spielen muss: Orientierung geben hierbei neben einem hohen Maß an Empathie die fachlichen Standards der Sozialen Arbeit, welche das inhaltlose normative Gerüst rechtlicher Regelungen mit Leben anfüllen und erst dadurch für den Dienst am Menschen anwendbar werden. Ohne ein zumindest rudimentäres Verständnis von der Interpretationsfähigkeit und Interpretationsbedürftigkeit der rechtlichen Rahmenbedingungen ist eine verantwortungsvolle Soziale Arbeit nicht vorstellbar. Der juristische Auslegungskanon bietet hierfür lediglich eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung.

Frank Czerner, am 29. Oktober 2014

Glückwünsche von Herrn Philipp Neumeyer, Frau Manuela Geißler und Herrn A. Steiner